W. Neugebauer u.a. (Hrsg.): Kulturstaat und Bürgergesellschaft

Titel
Kulturstaat und Bürgergesellschaft. Preußen, Deutschland und Europa im 19. und frühen 20. Jahrhundert


Herausgeber
Neugebauer, Wolfgang; Holtz, Bärbel
Erschienen
Berlin 2010: Akademie Verlag
Anzahl Seiten
IV, 265 S.
Preis
€ 49,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Karl Ditt, Landschaftsverband Westfalen-Lippe, Münster

Ausgangspunkt dieses Tagungsbandes ist die Feststellung, dass der preußische Staat im Übergang von der Frühen Neuzeit zum 19. und 20. Jahrhundert von einem Macht- zu einem Kulturstaat geworden sei. Die Herausgeber fragen einleitend, welche Formen „Preußen als Kulturstaat“ angenommen habe und welche Ursachen ihn seit dem späten 18. Jahrhundert dazu bewegten, auf dem Feld der „kulturellen Daseinsvorsorge“ tätig zu werden. Vor allem zwei Faktoren machen sie dafür verantwortlich: die internationale Konkurrenz, die Preußen zu einer nachholenden Initiierung eigener kultureller Aktivitäten veranlasst habe, und die Interessen des Bildungsbürgertums, das den Kulturstaat in Aushandlungsprozessen mit der Staatsverwaltung durchgesetzt habe. Diese sei geradezu zu einer „gesellschaftlichen Agentur“ geworden.

Die erste Sektion behandelt die politische Ausgangssituation und die Begrifflichkeit „Kulturstaat“. Wolfgang Neugebauer sieht die Anfänge der preußischen Kulturpolitik im späten 18. Jahrhundert, weil jetzt die Baupolitik unter anderem das Ziel der Repräsentation verfolgt habe, Kunstschulen gegründet worden seien, die auch geschmacksbildend wirken sollten, und aufgrund der Verbesserung der Finanzsituation – vor Wilhelm von Humboldt – eine Schul- und Universitätspolitik aufgenommen worden sei. Sie sei wesentlich durch Reformkreise in Adel, Militär und Bürgertum unterstützt worden. Rüdiger vom Bruch referiert Konzeptionen, die das Kaiserreich als Kulturstaat sehen. Gustav Schmoller habe das Kaiserreich deshalb als Kulturstaat betrachtet, weil es auf den sozialen Ausgleich gezielt habe. Andere Wissenschaftler hoben für diese Qualifizierung die Förderung von Bildung, Wissenschaft und Kunst mit dem Ziel der Veredelung des Menschen hervor. Seit der Jahrhundertwende sei der Kulturstaat Kaiserreich dann unter Berufung auf die nationale Kultur und „das Wesen“ des Volkes begründet worden.

Die zweite Sektion behandelt Beispiele von Kulturstaatlichkeit und Kulturpolitik innerhalb Deutschlands und Europas. Bärbel Holtz betont für Preußen im 19. Jahrhundert den Parallelismus von Macht- und Kulturstaat, also von militärischer Aufrüstung bei gleichzeitiger Förderung von Bildung, Wissenschaft und Kunst. In der Kunstförderung sei es zu einer Wechselwirkung von Bürgertum und Staatsverwaltung gekommen, die besonderen Ausdruck in den Berliner Museumsgründungen gefunden habe. In der Kulturpolitik in Österreich, so Andreas Gottsmann, habe ebenfalls zuerst das Unterrichtswesen und die Kirchenverwaltung, dann die Kunst im Vordergrund gestanden. Die entsprechenden Maßnahmen, die – wie in Preußen – durch eine eigenständige Kulturpolitik des Monarchen ergänzt wurden, konzentrierten sich im Wesentlichen auf die Hauptstadt, erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts auch auf die Regionen. Über die Förderung der Kultur hinaus sollte durch die Dezentralisierung der Maßnahmen die Integration des Vielvölkerstaates gefördert werden. Auch in Bayern, so Michael Körner, habe die staatliche Kirchen-, Bildungs- und Wissenschaftspolitik während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zunehmend an Bedeutung gegenüber den kulturpolitischen Maßnahmen des Monarchen gewonnen. Im Unterschied zur Einschätzung der österreichischen Kulturpolitik durch Gottsmann weist Körner der bayerischen Kulturpolitik eine geringere Bedeutung für die blühende Hauptstadtkultur um die Jahrhundertwende zu. Während die königliche Kulturpolitik zugunsten der katholischen Kirche eine Form der eigennützigen Machtpolitik gewesen sei, sei die staatliche Kulturpolitik nicht zuletzt durch das föderale Konkurrenzmotiv, mit Preußen mitzuhalten, bestimmt worden.

Andrej Andreev gibt einen Überblick über den Aufbau des Bildungs- und Wissenschaftssystems im Russischen Reich während des 19. Jahrhunderts, weist auf österreichisch-polnische, dann auch preußische Vorbilder hin und geht näher auf den Wechsel der Minister ein. Ziel sei die Europäisierung der Bevölkerung und des Staates gewesen. Etiènne François hebt für Frankreich im 19. Jahrhundert zunächst die Tradition der Monarchie als Schirmherrin der Kultur und den Anspruch aus der Revolutionszeit, Kunst und Kultur in den Dienst des Volkes zu stellen, hervor. Der Staat habe eine zentralistische, durch Inspektoren kontrollierte Bildungs-und Wissenschaftspolitik betrieben, die vor allem seit den 1880er-Jahren den stark gewachsenen Einfluss der katholischen Kirche zurückdrängte und im universitären Bereich beim deutschen Modell Anleihen machte. Anna Gianna Manca geht für Italien sehr detailliert auf die zentralistischen Organisationsformen sowie die grundlegenden Gesetze und Verwaltungsakte des Bildungs- und Wissenschaftssystems ein und betont die bis heute reichende Kontinuität der Sprunghaftigkeit und Widersprüchlichkeit der staatlichen Politik auf diesem Feld.

Die dritte Sektion stellt Einzelaspekte der preußischen Kulturpolitik vor. Christina Rathgeber hebt den sich seit dem Jahre 1808 vollziehenden schrittweisen Machtgewinn des Kultusministeriums gegenüber dem Monarchen, dem „summus episcopus“ der Evangelischen Kirche, in der Kirchenpolitik hervor und beschreibt die geschickte Politik des Ministeriums, durch die Berücksichtigung königlicher Vorgaben und regionaler Traditionen sowie gestützt auf seine Personal- und Finanzhoheit auf den Evangelischen Oberkirchenrat Einfluss zu nehmen. Erik Grimmer-Solem geht auf die Vorbildfunktion der preußischen Bildungs- und Wissenschaftspolitik für Japan in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein. Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts gewann jedoch das anglo-amerikanische Bildungs- und Wissenschaftssystem zunehmend an Einfluss, weil das Reich aus machtpolitischen Interessen Japan zugunsten Chinas vernachlässigte. Letztlich seien die Aktivitäten japanerfahrener Beamter und Bürger sowie der katholischen Kirche, die kurz vor dem Ersten Weltkrieg zur Gründung einer Universität führten, effektiver für die dortige Förderung des deutschen Bildungs- und Wissenschaftssystems gewesen. Reinhold Zilch thematisiert die Finanzierung des preußischen Kulturstaats im internationalen Vergleich, beschränkt sich aber auf die Darstellung der Volksbildungsausgaben und die Schwierigkeiten seiner Aufgabenstellung. Hartwin Spenkuch skizziert Wissenschaftsstiftungen und -schenkungen in Preußen um die Jahrhundertwende und behandelt einzelne Maßnahmen und zeitgenössische Erfolgskriterien. Da viele Stifter mit ihrem Geld auch eigennützige Motive verfolgten oder spezifische Bedingungen durchsetzen wollten, setzte sich der Staat nicht selten zur Wehr, da er die Wissenschaftsförderung als seine eigene Domäne betrachtete.

Insgesamt gesehen gibt der Band einen guten Überblick über die Gründung, Organisation und Politik staatlicher Kultusministerien in Europa. Es entsteht der Eindruck, dass sie in gleichsam konzertierten Wellen zu Beginn und in der Mitte des 19. Jahrhunderts entstanden. Allerdings wird weder einleitend noch abschließend der Versuch gemacht, das offensichtlich Gemeinsame der behandelten Länder oder das Spezifische Preußens zu benennen. Es dominiert der Blick von oben, das heißt die Verfolgung der staatlichen Politik auf den Feldern Bildung und Wissenschaft, zum Teil auch der Kunst und Religion. Wesentliche Bereiche der staatlichen Kulturpolitik wie die Initiierung und Arbeit der Denkmalpflege, Museen, Bibliotheken oder Archive, deren Untersuchung die Zusammenarbeit zwischen Staat und Bürgertum genauer zeigen könnte, werden kaum thematisiert, ebenso wenig das Verhältnis zwischen Staat und Kommunen bzw. den in Preußen für die Kulturpolitik wichtigen Provinzialverbänden. Infolgedessen bleibt die in der Einleitung versprochene Berücksichtigung des Bildungsbürgertums und seiner Wechselwirkung mit dem Staat weitgehend aus. Die außerordentlich zurückhaltende Darstellung der Weltfremdheit der Kathedersozialisten mit ihren Vorstellungen vom Sozial- und Kulturstaat Kaiserreich gibt weder einen adäquaten Eindruck von der Vielfalt und Intensität der bürgerlichen Kulturinteressen, noch belegt sie den angemessenen Einfluss des Bürgertums auf die Staatsverwaltung – im Gegenteil: Aus den Beiträgen wird in traditionellem Sinn die aktive Rolle der Staatsverwaltung deutlich.

Stellt man die Frage nach dem Kulturstaat Preußen, das heißt, will man der Interpretation Preußens als Machtstaat eine Alternative entgegen- bzw. eine Ergänzung zur Seite stellen, wird man sich nicht auf die staatliche Bildungs- und Wissenschaftspolitik beschränken dürfen. Vielmehr hätte unter der gewählten Fragestellung das in den 1820er-Jahren erwachende Interesse des Bürgertums an der Geschichte sowie die daraus entstehenden Vereine und Initiativen stärker thematisiert werden müssen. Erklärungen der charakteristischen Rückwärtsgewandtheit von Staat und Gesellschaft in einer Zeit, die durch wirtschaftlichen, sozialen und politischen Aufbruch und eine Vielzahl von Utopien gekennzeichnet war, entstehen aus dieser Perspektive nicht. So bleibt eine nützliche Bestandsaufnahme von Herausbildung der organisatorischen Gliederung und Maßnahmen der Kultusministerien in europäischen Ländern sowie einzelner preußischer Fachpolitiken.